Großer Bahnhof bei der Theater-AG
„Hier pulsiert das Leben. Zentrum und Niemandsland. Kein Typ Mensch, den Sie hier nicht antreffen. Hier erleben Sie Storys wie sonst nur im Theater.“ Siggi, der Stadtstreicher und Ex-Polizist, bringt es auf den Punkt: Die Lebenswege, die sich hier im Bahnhof kreuzen, könnten unterschiedlicher nicht sein, und den Typen, Verwicklungen und Wechselspielen in all ihrer – teils tragischen – Komik zuzusehen, machte so viel Spaß, dass mancher Dialog fast im Gelächter des Publikums unterging. Als Comedy-Stück angekündigt, überzeugte die diesjährige Vorstellung der Theater-AG durch schnelle Szenenfolge und hohe Gagzahl, aber vor allem durch die extreme Spiellaune und Wandlungsfähigkeit des Ensembles, dessen Mitglieder bis zu drei Rollen samt rasendem Kostümwechsel zu bewältigen hatten.
Dabei bespielten sie über die Bühne mit Fahrkartenschalter und Wartesitzen hinaus von Anfang an auch den Zuschauerraum der Aula: Da lallten und knallten die drei Herren vom Junggesellenabschied lautstark die Wände entlang, keifende Paare zankten sich mitten durch die Reihen und einigen Zuschauern blieb der Atem weg, als ihnen drei professionelle Damen aus dem Bahnhofsviertel auf einmal sehr nahe kamen…
Zwischen reichen Snobs und kleinen Jobs, zwischen verzweifelnden Menschen und versagender Technik, aber vor allem zwischen den Geschlechtern und Generationen flogen Funken und Fetzen, bis der Zug der Schauspieltalente nach fast zwei Stunden sein Ziel erreichte und „Bahnhofsvorsteher“ Michael Meyer die Mitglieder der AG verabschiedete, die nun zum letzten Mal auf dieser Bühne gestanden hatten. Neben Sarah Kopp, der Herrscherin über die Schminktöpfe, und Yannik Pries, dem Meister der Technik, waren dies: Philipp Pauli, der in seinen Rollen als multitaskender Lover und als unter der Fuchtel stehender „Herbert!!!“ die Extreme des Männerverhaltens auslotete, Severine Thiel, die nach sechs AG-Jahren ihre Rührung nicht zurückhalten konnte, und Luca Lis, der nicht umsonst seine Karriere mit der Paraderolle des „Schauspielers“ beendete. Standing Ovations für Scheidende und Bleibende und allseitige Freude über zwei gelungene Abende.
Vier Personen, dieus auf dem Bahnhof sozusagen zu Hause sind: die Putzfrau und der Stadtstreicher, die ihrem Schicksal trotzen, auch wenn sie von der halben Welt als Passagiere unterster Klasse behandelt werden. – Eine gebeutelte Mutter, die sich nicht aus der Bahn werfen lässt und gefühlte zehn Jobs gleichzeitig schmeißt, und Nancy, die Frau für gewisse Stunden, die respektlose Typen ohne zu zögern in die Schranken weist.
Auch auf den Nebengleisen bringen etliche Charaktere die Handlung trotz überraschender Richtungswechsel voran. Die karrieresüchtige Politikerin prallt mit dem Möchtegernschauspieler zusammen. Eine frustrierte Braut sucht die gesamte Strecke ab nach dem Mann fürs Leben. Der Gigolo fährt seine immer gleiche Schiene, landet aber letztlich auf dem Abstellgleis. Ein schüchternes Muttersöhnchen kommt unverhofft auch mal zum Zug. Ein genervter Ehemann zieht auf dem Weg in den Urlaub die Notbremse. Die Frau mit Helfersyndrom sendet Signale, um alle zur Umkehr zu bewegen. Und manch einer entdeckt zu dem anderen eine Verbindung, die er seinem Fahrplan nie entnommen hätte.
Impressionen von der Aufführung finden Sie hier.
J. Schindler